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Die Bäumin, die eine Zierpflanze sein sollte

Ihr Lieben,
der April hat sich mit einem sonnigen Tag verabschiedet. Draußen sitzen und die Sonne spüren – welch ein Luxus!
Der Mai beginnt – er steht für Neuanfang, für Loslassen dessen, was nicht mehr dienlich ist.
Dazu möchte ich Euch eine kleine, wahre Geschichte einer “Zierkirsche”, die ich seit Kindheitstagen kenne, erzählen:

Die Bäumin
Es war einmal eine Pflanze, die etwas anderes sein sollte, als sie eigentlich war.
In einem Gartencenter vor vielen Jahrzehnten kam sie auf die Welt – ganz klein und zart. Dann kamen große Hände, die sie anfassten, ihren jungen, dünnen Stamm beschnitten und ihr sagten, „Wir machen jetzt etwas Hübsches aus Dir!“
Das Ergebnis der Veredlung war nicht nur nett anzusehen, sondern auch sehr praktisch – denn nun konnten sich keine Früchte mehr entwickeln, die man hätte ernten müssen. „Zierkirsche – wunderschöne, rosa Blütenpracht im Frühjahr, pflegeleicht, kein lästiges Fallobst im Herbst“ – so stand es auf ihrem Etikett.

Es waren einmal zwei junge Eltern, denen genau DAS gefiel.So landete die junge Bäumin in einem ebenfalls jungen Familiengarten.

Sie tat, wozu sie gemacht worden war, und wuchs zu einer wunderschönen Zierkirsche heran. Ihre Äste entsprangen dem Stamm, wuchsen seitwärts und neigten sich dann elegant der Erde zu, so dass sie bald eine Art Baldachin bildeten. Sie schenkte im Frühjahr überschwänglich einen Traum von zart-rosa Blüten, spendete im Sommer kühlenden Schatten unter ihren hellgrünen Blättern. Natürlich verstreute sie im Herbst keine Früchte im Garten.

Allerdings flogen Bienen, Schmetterlinge und andere Flatterer, die sich in den Blumenbeeten und den Blüten anderer Bäume lustig tummelten, achtlos an ihr vorbei, gerade so, als wäre sie gar nicht da. Geruchlos.
Immerhin – im Winter, wenn sie kahl war, durfte sie das Vogelfutter-Häuschen tragen und bekam zwitschernden Besuch.
Manchmal träumte sie davon, dass diese Vögel auch im Frühjahr zu ihr kämen, vielleicht ein Nest in ihren Zweigen bauen würden. Dann seufzte sie ein wenig. Ihre heimlichen Tränen fielen niemandem auf – sahen sie doch aus wie funkelnde Regentropfen oder kleine, glitzernde Eisperlen.
„Ist es wirklich meine Bestimmung, nur für die Menschen liebenswert und schön zu sein? Oder ist vielleicht doch etwas falsch an mir?“, fragte sie sich das eine oder andere Mal.

Eines Frühjahrs fühlte sie sich müde – ihre Äste waren ihr fast zu schwer. An ihren Blüten fraßen die Läuse und sie hatte nicht die Kraft, sich ihrer zu erwehren. „Vielleicht ist es an der Zeit für mich?“, dachte sie zweifelnd.
Doch dann sah sie, wie sehr sich „ihre“ Menschen bemühten, sie zu retten. Sie bekam besonderes Wasser, sie wurde abgespritzt und mit besorgten, liebevollen Blicken bedacht.
So beschloss sie, all ihre Kräfte zusammenzunehmen – sie wollte schließlich niemanden traurig machen. Ein paar Äste knickten ab, aber sie schaffte es, sich zu rappeln.

Im nächsten Frühjahr trieb sie wieder aus, verscheuchte die gefräßigen Gäste von ihren Blüten und fand – angespornt von der Freude, die ihr wiedererwachtes rosa Blütenmeer den Menschen schenkte – zurück in ihre alte Kraft.

Aber etwas hatte sich verändert, irgendetwas fühlte sich anders an. Mit Erstaunen spürte sie, dass aus ihrem Inneren, inmitten ihrer Krone neue Triebe wuchsen, die sich nicht der Erde zuneigen wollten, sondern sich geradewegs in den Himmel reckten. Auch die Blüten fühlten sich anders an. Sie waren kleiner, fester, weiß.
Dort oben kitzelte doch etwas … Richtig! Die ersten Bienen krabbelten in die jungen Blütenkelche. „Oh – so muss es sich anfühlen, wenn man eine Blume ist!“, dachte sie erstaunt und entzückt.

Die Blütenblätter fielen ab, wie in jedem Frühjahr. Doch war da etwas, das ihr bislang unbekannt war. Kleine, grüne Knubbel bildeten sich aus den Blütenständen – was konnte das sein?
Die Bäumin wurde neugierig, es gefiel ihr, es fühlte sich gut an.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu – da geschah das nächste Wunder! Aus den grünen „Knubbeln“ hatten sich dunkel-rote Früchte entwickelt. Echte Früchte! Die Vögel kamen, um von ihnen zu naschen. Ein paar Drosseln stritten lautstark um ihre farbige Beute.

„Ich muss träumen! Sicher ist es schon Winter, ich bin eingeschlafen und sie streiten sich um das Vogelfutter! Hm – aber warum habe ich noch so viele grüne Blätter?“
In ihren Wurzeln gluckste es. „Nein, meine Liebe“, drang die Stimme von Mutter Erde zu ihr herauf, „Du träumst nicht, Du erlebst nur gerade, wer Du wirklich, wahrhaftig bist – dort oben in Deiner Krone wächst Du als das, was Du schon immer warst.“
„Endlich“, ergänzte Mutter Erde liebevoll, „genieß es!“
“Oh ja!”, jubilierte es in der Bäumin. Auch wenn sie es noch gar nicht ganz glauben konnte, spürte sie mit tiefer Freude, wie aus ihrem alten, knorrigen Stamm eine ganz neue Lebendigkeit emporstieg.

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Für die Menschen, die sie einst gepflanzt hatten, ist die Bäumin weiterhin die alte, geliebte, schattenspendende Zierkirsche. Aber – „Ist es nicht ein Wunder? Zwei Bäume in einem – nach so vielen Jahren bahnt sich die Natur doch wieder ihren Weg“, staunen sie jedes Mal, wenn sie hinaufschauen.

Und die Bäumin? Für sie beginnt ein neues Leben oberhalb ihrer Zierkirschen-Krone, das sich der Sonne entgegen streckt – jung, unbeschwert – mit in ihren Blüten kitzelnden Bienen, Schmetterlingen, Hummeln – mit Vögeln, die sich um ihre Früchte balgen – in tiefer Dankbarkeit für ihre alten Wurzeln, die sie nährten und immer noch nähren – in Dankbarkeit dafür, ihr wahres SEIN unter dem „Zierkirschen-SCHEIN“ ent-decken zu dürfen.
Etwas tief in ihr hatte es immer geahnt …

„Wie gut, dass ich in dem Jahr, als es mir schlecht ging, nicht aufgegeben habe!“ Während die Sonne ihre neuen Baumspitzen wärmt, spendet sie gleichzeitig den unter ihr sitzenden Menschen liebevoll den gewohnten, kühlen „Zierkirschen-Schatten“.
Ich BIN – mit allen Facetten …

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Ein kleiner Nachsatz: die Früchte der Bäumin sind keine “Kultur-Kirschen”. Sie sind viel kleiner, sehr sauer und haben nur wenig Fruchtfleisch.
Wer weiß – vielleicht möchte in dem kleinen Garten eine ganz ur-sprüngliche Art wieder in die Welt kommen oder etwas völlig Neues entstehen?

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