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Aimeé – die Wanderin zwischen den Zeiten

Für eine liebe Freundin – für alle, die sich nicht sicher sind, in welcher Welt sie sich gerade befinden – für alle, die liebe Menschen kennen, die von Dingen erzählen, die sie selber sehen, die aber für andere nicht sichtbar sind – für alle, die zwischen dem Hier und den Anders-Welten unterwegs sind –
In Liebe für Euch, die Ihr das Gefühl habt, es gäbe noch mehr zwischen Himmel und Erde, als das, was in unserer (westlichen) Welt als “normal” gilt …
In Liebe für Euch alle 🙂

 

„Aimee – träumst Du? Die Männer kommen gleich heim – wie weit bist Du?“
Das kleine Mädchen zuckte zusammen, blickte auf das Gemüse, das noch unberührt vor ihr lag und antwortete schnell: „Gleich, Mamá!“
Ana schaute um die Ecke, sah ihre Tochter dort sitzen, wo sie vor langen Monden selber als Kind gesessen hatte und musste schmunzeln.
„Komm, ich helf Dir – gemeinsam werden wir vielleicht noch rechtzeitig fertig!“
Eine Weile saßen beide – Mutter und Tochter – auf dem Boden und ließen die scharfen Messer ihre Arbeit tun.
„Mamá?“, einen Moment Stille während Ana Aimee anschaute. „Mamá, die Lehrerin hat heute wieder mit mir geschimpft“, sagte die Kleine leise.
„Ich weiß.“
„Mamá – ich will doch immer gut sein in der Schule, aber manchmal kann ich es einfach nicht – ich meine es doch nicht böse. Aber sie denkt, ich mag sie nicht leiden, wenn ich nicht aufpasse und dann wird sie wütend.“
„Ich weiß, mein Kind! Sie ist keine von uns – sie versteht nicht. Und wenn Menschen etwas nicht verstehen, denken sie etwas Falsches davon und werden wütend.“
„Aber Mamá – ich verstehe es doch auch nicht. Warum wandern meine Gedanken immer – warum sind da diese vielen Träume? Und wenn die Lehrerin dann wissen will, wovon ich geträumt habe, kann ich mich nicht einmal erinnern.“ Aimees Augen wurden feucht. Sie wischte sich schnell über’s Gesicht.
Die Mutter schaute sie liebevoll an. Dann erwiderte sie leise, „ich weiß, mein Kind – irgendwann wirst Du verstehen und dann wirst Du froh sein, die Gabe des Träumens von den Ahnen bekommen zu haben!“
„Aber wann, Mamá? Die Lehrerin ist JETZT böse mit mir – und Du hast mehr Arbeit, weil ich geträumt habe“, schluchzte Aimee. Ana nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm, ließ sie weinen bis keine Tränen mehr kamen … eine Antwort hatte sie nicht – noch nicht.

Am nächsten Tag gab sich Aimee besonders viel Mühe in der Schule, mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit im Unterrichtsraum zu bleiben. Als der Gong ertönte, packten alle Kinder ihre Sachen, strömten fröhlich nach draußen. Aimee folgte ihnen langsam. Sollte sie jetzt für immer sich so anstrengen müssen, um nicht in Gedanken auf Wanderschaft zu gehen? Sie war müde und voller Zweifel.

In Gedanken versunken verließ sie Schule. „Aimee?“
Vor Schreck wäre sie fast gestolpert, hatte sie schon wieder geträumt? Vor ihr stand groß und breit lächelnd die Großmutter. Alle im Dorf nannten sie so – sie war die Weise des Dorfes, wohnte in einer Hütte am Rand des Dorfes und kam selten zum Dorfplatz in der Mitte – noch seltener zur Schule.
„Aimee – ich möchte Dir etwas zeigen – komm mit!“
Aimee zögerte. Man widersprach Großmutter nicht. Aber wartete nicht die Mutter auf sie?
Großmutter lächelte „Es ist alles gut, mein Kind – Ana weiß Bescheid! Ich habe mit ihr gesprochen, Dein Bruder wird heute Deine Arbeiten erledigen!“

Aimee folgte.
Die Dorfbewohner hatten großen Respekt vor der alten Frau – sie war gütig und weise, hatte auf alle Fragen eine Antwort und war die gute Seele des Dorfes. So wurde sie auch behandelt. Wenn ihr die Frauen des Dorfes Geschenke oder Essen brachten, legten sie es leise an die Feuerstelle vor ihrer Hütte. Wenn sie um Rat fragen wollten, blieben sie vor der Hütte stehen, bis Großmutter herauskam und sie anhörte. Kaum jemand, den Aimee kannte, war je über die Schwelle von Großmutters Hütte getreten.
„Großmutter?“, begann sie leise, „ich habe mir viel Mühe gegeben, nicht zu träumen und meine Arbeit zu tun. Auch in der Schule habe ich mich sehr angestrengt, die Lehrerin nicht zu erzürnen. Ehrlich!“ Denn dass ihr Träumen der Grund wäre, warum die Großmutter sie sprechen wollte, daran hatte sie keinen Zweifel.
„Ich weiß, mein Kind!“ Damit waren sie an ihrer Hütte angelangt. „Komm hinein – ich gebe Dir einen Tee!“
Aimee zögerte – durfte sie wirklich hineingehen, SIE, das kleine, träumende Mädchen?
„Ja natürlich darfst Du!“, kam lächelnd die Antwort der Großmutter.
Vorsichtig trat Aimee ein. Die Hütte war erstaunlich hell, freundlich eingerichtet mit bunten Decken an den Wänden, weichen Fellen auf dem Boden und einer kleinen Kochstelle neben dem Eingang.
„Setz Dich“, lud Großmutter sie ein, während sie einen Topf vom Herd nahm und Tee in zwei Becher füllte. Einen reichte sie ihr, einen nahm sie selber. „Trink, mein Kind!“ Aimee tat, wie geheißen – was für ein köstlicher Geschmack! Ein Strahlen ging über ihr kleines Gesicht – was immer jetzt folgen würde, solch einen köstlichen Tee hatte sie noch nie getrunken!
„Schmeckt es Dir? Gefällt es Dir bei mir?“. Forschend blickte die Alte in die Augen des Kindes. Aimee brachte kein Wort heraus und nickte nur.
„Wie ist das mit Deinen Träumen?“, fragte sie weiter. Aimee blickte sie mit großen Augen an – jetzt kam es doch, sie hatte es gewusst. Beschämt senkte sie wiederum den Kopf und antwortete leise: „Ich kann es nicht verhindern – es ist wie eine Reise in eine andere Welt und dann vergesse ich alles um mich herum. Aber wenn ich mich erschrecke, dann weiß ich nicht mehr, wo ich gewesen bin und was ich gesehen habe. Alles, was ich dann sehe, ist, dass meine Arbeit nicht erledigt ist oder dass die Lehrerin wütend ist.“
Die Alte nickte. „Schimpft Deine Mutter mit Dir?“ „Nein, aber sie hat ohnehin alle Hände voll zu tun – und dann hilft sie mir oft noch bei meinen Aufgaben.“
„Deine Mutter versteht“, antwortete die Alte, „und für Dich ist es Zeit zu lernen, mit dem Geschenk der Ahnen, mit Deiner Gabe, in andere Welten einzutauchen, gut umzugehen.“
Fragend hob Aimee den Kopf.
„Es gab eine Zeit“, fuhr die Alte feierlich fort, „als alle Menschen zwischen den Zeiten hin- und herwandern konnten. Sie lernten es von ihren Müttern und Großmüttern und gaben es an ihre Kinder und Enkel weiter – inzwischen haben viele diese Gabe verlernt. Du hast sie – und ich werde Dir zeigen, wie Du sie gut für Dich und für andere einsetzen kannst. Willst Du Deine Gabe annehmen und dem Ruf der Ahnen folgen?“
Aimee wusste nicht so recht, wie ihr geschah – aber sie spürte, wie ernst es der Großmutter war. „JA!“
„Gut – dann fangen wir gleich an. Vergiss nicht, Deinen Tee zu trinken“, lächelte sie.
„Gibt es etwas, das Du mehr liebst als Dich selber?“ Da musste Aimee nicht lange nachdenken, es war ihre weiße Wölfin, die sie immer unsichtbar begleitete.
Großmutter nickte. „Das ist gut – sie ist Dir hierher gefolgt, nicht wahr? Ich sah sie schon, als Du aus der Schule kamst.“ „Wirklich? Ich dachte, nur ich könnte sie sehen! Ich habe noch nie jemandem von ihr erzählt.“
„Die meisten Menschen werden sie auch nicht sehen, weil sie nur mit ihren Augen schauen – es gibt nur wenige, die sie sehen oder spüren können, weil sie mit dem Herzen sehen. Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
Die Alte wandte sich an die Wölfin: „Du wirst ab jetzt Aimee bei ihren Reisen begleiten und dafür sorgen, dass sie lernen kann, bei ihren Reisen in die Welt der Ahnen rechtzeitig zurückzukommen, bevor jemand sie HIER erschreckt!“ Die Wölfin nickte.
„Du wirst auch Aimees Verbindung zwischen dem HIER und der Welt der Ahnen zu sein, damit Aimee gleichzeitig HIER und DORT sein kann. Verstehst Du das?“ Die Wölfin schnaubte.
„Und Du, mein Kind, wirst jetzt lernen, Dich von Deiner Wölfin begleiten zu lassen, Dich von ihr führen zu lassen und dann gleichzeitig auf Reisen und HIER zu SEIN!“
„Großmutter – ich weiß nicht, wie das geht, ich weiß nicht, ob ich das kann?“
Beruhigend antwortete die Alte: „Darum habe ich Dich hierhergebeten – weil ich es Dich lehren werde. Wir werden gemeinsam in die Welt der Ahnen gehen. Du wirst spüren, wann Dich Deine Wölfin zurückholen will. Lass es uns ausprobieren – bist Du bereit?“
Aimee nickte. Großmutter rief die Ahnen, Aimees Augen begannen zu flattern – wie jedesmal, wenn sie „ihre Reise“ begann. An der Hand der Großmutter, ihre Wölfin an der anderen Seite, betrat sie die andere Welt.
Sie wurden schon erwartet, herzlich empfangen. „Setz Dich zu uns – wir haben schon auf Dich gewartet!“, ertönte eine helle, warme Stimme. Aimee war erstaunt – so hatte sie diese Welt noch nie erlebt – so lebendig. Sie schaute sich um und sah Großmutter im Gespräch mit anderen, sie spürte die Wölfin neben sich – und setzte sich. „Du warst schon oft hier, erinnerst Du Dich?“ Aimee schüttelte den Kopf. „Ich hatte immer Träume, aber ich konnte mich nie an sie erinnern.“
Die helle Stimme klang belustigt: „Natürlich nicht – ich vergaß, entschuldige bitte. Solange Du als Menschenkind hierher kommst, musstest Du alles vergessen, was Du hier gesehen hast. Das ist unser Schutz, damit auf der Erde keine Verwirrung entsteht. Wenn Du jetzt kommst und in Zukunft kommen wirst, wirst Du lernen, Dich mehr und mehr zu erinnern.“

Eine Zeit später spürte sie, wie die Wölfin ihre Schnauze in ihre Hände schob. „Lass uns gehen!“
‚Großmutter hatte gesagt, ich soll Dir folgen – ja, lass uns gehen!‘. Sie verabschiedete sich von der hellen warmen Stimme. So „landete“ sie sanft wieder auf den Fellen in Großmutters Hütte.
„Und? Was hast Du gesehen, gehört, gespürt? Kannst Du Dich heute erinnern und hast Du den Ruf zum Zurückkehren Deiner Wölfin gespürt?“
„Ja, ich weiß noch, was ich gesehen habe, was gesprochen wurde! Und die Wölfin hat mich gut wieder hierher begleitet. Aber wo warst Du, ich habe Dich nicht mehr gesehen?“
„Ich hatte auch noch etwas zu besprechen.“ Großmutter zwinkerte. „Schließlich musste ich Dich ja als „Schülerin“ im Kreis der Ahnen anmelden!“

So lernte sie – liebevoll begleitet von der weisen Großmutter – sich zwischen den Welten zu bewegen. Sie lernte, in der anderen Welt ihre Fragen zu stellen und aus der Weisheit der anderen Welt Antworten zu bekommen. Sie lernte, in der anderen Welt zu sein, während sie gleichzeitig im HIER ihre Aufgaben erledigte oder der Lehrerin zuhörte.

Oft kamen die anderen Kinder zu ihr, setzten sich neben sie und wollten ihre Geschichten hören. Manchmal erzählte sie von ihren „Träumen“, manchmal schwieg sie einfach – aber die anderen schienen sowohl ihre Worte als auch ihre Gedanken zu verstehen.

Eines Tages kam sie aufgeregt zur Großmutter mit einer großen Frage: „Großmutter – sie haben mir aufgetragen, meinem Vater eine Botschaft auszurichten. Aber ich habe sie nicht verstanden – kannst Du sie mir erklären?“
„Mein Kind – nein – selbst, wenn ich könnte, würde ich Dir nichts erklären! Versprich mir: wenn Du etwas nicht verstehst, frag dort nach, woher die Botschaft kommt! Frag nie andere Menschen – sie können es nicht wissen und würden die Botschaft nur verfälschen. Dann können ungute Missverständnisse entstehen. Und was auch immer Du für Botschaften für andere Menschen aufgetragen bekommst – sie sind nicht für Dich, DU musst sie nicht verstehen – aber die anderen werden sie verstehen, wenn sie die Botschaft annehmen wollen. Es ist nicht Deine Aufgabe, zu entscheiden, was jemand mit der Botschaft macht – Deine Aufgabe ist nur, sie so zu überbringen, genau so, wie sie Dir aufgetragen wurde!“

So verging die Zeit. Inzwischen kamen viele aus dem Dorf auch zu Aimee und fragten sie um Rat – die Großmutter sah es mit Dankbarkeit – es erfüllte sie mit großer Freude, dass das alte Wissen mit der jungen Aimee weiterleben würde.

So verging die Zeit – Aimees letztes Schuljahr im Dorf neigte sich dem Ende. Der Vater hatte beschlossen, sie solle danach für einige Zeit in die große Stadt zu seiner Schwester ziehen, um weiter in die Schule zu gehen und eine Ausbildung zu machen.
Aimee wusste noch nicht, ob sie sich freuen sollte. Natürlich war sie neugierig, die Stadt kennen zu lernen – aber es schmerzte auch, die ihr so vertrauten Menschen verlassen zu sollen – vor allem die Großmutter würde sie vermissen.

Am letzten Tag vor ihrer Abreise saßen sie gemeinsam in ihrer Hütte und tranken den Tee, der Aimee schon bei der ersten Begegnung so wohlgetan hatte. So lange schien es her zu sein – damals …
„Mein liebes Kind – ich wünsche Dir, dass es Dir gut geht und dass Du immer gut auf Dich aufpassen kannst, dass Du vielen freundlichen Menschen begegnest.“ Sie schwieg einen Moment – wohlwissend, dass in der Stadt viele Herausforderungen auf das junge Mädchen warten würden.
„Liebes – versprich mir: vergiss NIE, wo Du herkommst, vergiss NIE, wer Du bist und was Du bist!
Ihre Kultur ist anders – so wie Dich damals Deine Lehrerin nicht verstanden hat, werden auch in der Stadt viele nicht verstehen, was wir hier noch wissen. Respektiere ihre Kultur, aber vergiss nicht über ihre Kultur den Respekt vor Deinen Wurzeln und Deine Liebe zu allem, was uns ausmacht!“

„Liebe Großmutter – wie könnte ich je vergessen, was Du mich gelehrt hast und was die Ahnen mich ständig neu lehren, an was sie mich teilhaben lassen? Ich werde lernen, womit ich unserem Dorf nützlich sein kann, dann werde ich zurückkehren!“
Sie umarmten sich ein letztes Mal.

In der Stadt …
Sie versuchte, sich zurecht zu finden – zwischen dem Verkehr, dem Straßengewirr, der Lautstärke. Nicht einmal die Nacht war ruhig – überall Lichter, immer noch lautes Treiben.
Die Sonne, der Himmel tagsüber schienen ihr vernebelt zu sein, die Sterne in der Nacht schienen ihr – vom Licht der Stadt in den Schatten gestellt – fast unsichtbar zu werden.
Sie vermisste die Gemeinschaft in ihrem Dorf – stattdessen fand sie Massen, die sich fast gleichförmig von A nach B, was immer das war, bewegten. Sie kam sich vor wie in einem Ameisenhaufen, und versuchte, das System darin zu erkennen.
Das Einzige, was ihr eine gewisse Orientierung gab, war die Wölfin an ihrer Seite, die sie mit scheinbar schlafwandlerischer Sicherheit begleitete. Das Einzige, was ihr Halt gab, war die Verbindung mit der Welt jenseits dieser Welt, in der sie ihre Fragen stellen konnte und in der sie willkommen war.
„Was machen die Menschen hier? Warum sind sie so rastlos?“, fragte sie DORT „Sie haben sich verloren. Sie sind auf der Suche nach ihrer Lebenskraft und suchen sie im Kaufhaus!“, antwortete Ihr der Drache, der gerade in ihrer Reise auftauchte. „Oh – wie traurig! Was muss geschehen, damit sie sich wieder gemeinsam an ein Feuer setzen, statt in laute, ohren- und herzensbetäubende Orte zu gehen?“
„Sie müssen es selber herausfinden, fürchte ich“, antwortete der Drache. „Ja, nur was kann ich hier tun?“
„Erzähle von Deiner Gemeinschaft – aber sei sorgsam beim Erzählen, damit sie sich nicht gleich zurückziehen. Diese Menschen sind schnell beleidigt.“ Der Drache schnaubte, ließ ein paar Flammen aus seinen Nasenlöchern tanzen und lachte. „Entschuldige bitte – es ist nicht zum Lachen – aber Weinen und Wasser sind nun mal nicht in meine Kompetenz.“

Anfangs war sie noch unbedacht – sie gab dort gute Worte, wo sie das Gefühl hatte, jemand könnte sie brauchen, sie ging auf Mitschüler zu, wenn sie das Gefühl hatte, sie brauchten gerade Nähe und sie erzählte frei von ihrem Dorf, wenn sie gefragt wurde, woher sie käme.

So war sie mit ein paar anderen Mädchen in der Pause in einem Cafè – es war laut und turbulent um sie herum. Eine aus der Gruppe sah sie an, fragte dann: „Du weißt doch so viel, ich habe gerade ein Problem mit meinem Freund – er hat, glaub ich, eine andere. Was soll ich tun?“
Aimee sah sich um und antwortete: „Hier kann ich mich nicht konzentrieren – sag mir, worum es geht und komm morgen wieder, wenn ich die Ahnen gefragt habe.“
Sie hatte es kaum ausgesprochen, da brachen die anderen in lautes Gelächter aus. „Sorry – aber „Ahne“ ist so ein altmodisches Wort für Großmutter – und überhaupt, warum willst Du Deine Großmutter fragen? Was geht sie das an und was sollte eine alte Frau schon von unseren Problemen wissen?“ Eine andere warf ein: „Lebt Deine Großmutter überhaupt noch?“ Wieder lautes Lachen.
Aimee sah sie an, eine nach der anderen – und verstand in diesem Moment, was Großmutter gemeint hatte, als sie sagte, ‚respektiere ihre Kultur!‘. Sie wussten nichts von der anderen Welt – alles, was sie kannten, war das, was sie mit ihren zwei Augen sehen konnten.
So sagte sie friedlich: „Wenn Du meinen Rat wirklich möchtest, lass uns in Ruhe reden – aber nicht hier!“ Das Problem mit dem eventuell fremdgehenden Freund wurde nie wieder erwähnt – diese Mädchen-Clique bat sie auch nie wieder zu irgendeinem gemeinsamen Treffen eingeladen.
Aber manche fühlten sich instinktiv zu ihr hingezogen … Eine Gemeinschaft derjenigen, die ein wenig anders sind, dachte Aimee manchmal amüsiert für sich …

Sie bewegte sie sich zwischen den Weisheiten, die die Stadt ihr vermittelte und dem, was Großmutter sie gelehrt hatte.

Sie kehrte zurück, um Großmutter zu begleiten, als ihr Körper sie nicht mehr tragen konnte.
„Kind, versprich mir, das, was ich Dir geben konnte, weiterzugeben, damit unser Wissen auf der Erde bleibt und nicht verloren geht! Liebes, lass Dich nie von Deinem Weg abbringen und sei immer achtsam, was hier oder dort gesagt oder nicht gesagt werden möchte!“
„Ja, Großmutter, ich werde es in Ehren halten und weder Dich noch das, was Du mich gelehrt hast, je vergessen – ich versprech es Dir!“
„Danke, sei gesegnet – ich werde immer bei Dir sein, wenn Du mich brauchst!“ Es dauerte noch einen Moment, dann nahm sie ihren letzten Atemzug und wanderte aus ihrem Körper ins Licht. Geborgen in den Armen von Aimee – liebevoll erwartet von der Welt jenseits des Regenbogens.

Aimee studierte Medizin in der Stadt – sie lernte das, was die „normale“ Welt als Wissenschaft anerkannte – verlor dabei nie die Verbindung zur anderen Welt. Ihre Wölfin begleitete sie auf ihrem Weg – und immer, wenn sie doch einmal ihren Weg zu verlieren schien, kam Großmutter vorbei, um sie an ihr Versprechen zu erinnern. Geborgen – geliebt – Wanderin zwischen den Welten, ohne die irdische Welt zu verlieren.

Sie wurde die Weise ihres Dorfes und die Verbinderin zwischen den Welten. Sie wurde Heilerin auf eine ganz andere Art – als Verbindung zwischen irdischen „Wissen“ und dem „Wissen der anderen, universellen“ Welt.

Aimee: „Ich wünsche jedem eine Großmutter, wie ich sie hatte. Ich glaube, jeder wird als „Wanderer zwischen den Welten“ geboren – aber nicht jeder hat das Glück, zu lernen, zwischen den Welten zu wandern. Diese irdische Welt ist nur allzu schnell bereit, das, was man nicht mit den physischen Augen sehen kann, als „verrückt“ zu bezeichnen. Aber glaubt mir, jemand, der diese und die andere Welt sehen kann, ist – wie ich – Wanderer zwischen den Zeiten. Vielleicht braucht er nur ein bisschen von dem, was meine Großmutter mich gelehrt hat, um damit gut umgehen zu können. Bitte seid achtsam – nur weil Euch ein Sein in verschiedenen Ebenen fremd vorkommt, ist es nicht falsch und schon gar nicht krank! Wie wäre es, Ihr würdet diejenigen, die etwas sehen, was Ihr nicht seht, fragen, WAS sie sehen und Euch darauf einlassen, zu spüren? Vielleicht erscheint es dann gar nicht mehr so fremd und schon gar nicht verrückt im „medizinischen“ Sinne?“

 

©Antje Renz

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