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Die lange verlorene Schatzkiste

Es war einmal …

Ein kleines Mädchen wurde in diese Welt geboren und bekam, wie alle Kinder dieser Welt, eine feine Schatzkiste mit ins Leben. In dieser Kiste befanden sich alle Schätze, die man sich nur wünschen könnte – Glitzerndes – Wertvolles – Schönes – ja, auch manches, das erst bei näherer Betrachtung zu seiner Schönheit wuchs – manches, das noch nicht ganz fertig, dem noch der letzte Schliff zu fehlen schien …

Als die Kleine ein wenig größer wurde, spielte sie viel mit ihren Schätzen, zeigte sie stolz den Eltern, den Großen, die um sie herum waren.

Aber die “Großen” hatten wenig Zeit. Manchmal fühlten sie sich geradezu geblendet, irritiert, gestört von der Schönheit vieler der Schätze, weil es ihnen so schwer fiel, sich auf Schönes einzulassen. War das Leben nicht hart genug? Musste man der Kleinen nicht beibringen, in dieser harten Welt zu leben? Wozu sollte dabei all der Glitzer in der Kiste gut sein?

So begannen sie, ein Teil nach dem anderen in altes Zeitungspapier zu wickeln und das Kind nach ihren Ansichten sinnvoll zu beschäftigen.

Anfangs machte es das kleine Mädchen traurig, dass Ihr Schatz für Schatz genommen wurde. Mit der Zeit allerdings begann sie, den Großen zu glauben, dass ihre Schatztruhe zu nichts nütze sei und wickelte selber die restlichen Schätze ein, bis sie schließlich die ganze Kiste, ihr Geburtsgeschenk, samt Inhalt in einer dunklen Ecke verstaute und vergaß.
Sie lernte, sich in der harten Welt durchzubeißen – ganz, wie es die Großen von ihr erwarteten. Doch immer war da eine leise Sehnsucht – tief verborgen –  in ihr, die sie sich selber nicht erklären konnte.

Lange, lange Zeit verging. Eines Tages, als wieder einmal Tränen rollten, die sie nicht weinen wollte, fiel ihr die Schatzkiste wieder ein. Sie stand tatsächlich noch dort, wo sie sie als kleines Kind versteckt und schließlich völlig vergessen hatte. Verstaubt, von zahllosen Spinnen eingewoben – ziemlich viele Schrammen hatte sie bekommen …

Vorsichtig wischte sie die Spinnennetze und den Staub ein wenig beiseite, öffnete den Deckel. Eine weitere Staubwolke kam ihr entgegen und ließ sie husten. Als ihre Augen wieder sehen konnten, blickte sie hinein. Traurig dachte sie: „Was habe ich daran als Kind nur schön gefunden, wahrscheinlich habe ich meine Kiste in ganz falscher Erinnerung?” Nichts glitzerte mehr – nur altes zerknülltes Zeitungspapier schaute sie an …

Sie nahm die Truhe und wollte sie entsorgen. Jemand beobachtete sie dabei und meinte im Vorbeigehen: “So eine alte Kiste, vielleicht ist sie unter all den Kratzern noch wertvoll? Ich kenne jemanden, der sie eventuell restaurieren könnte.”

“Hm – ein Versuch wäre es wert!”, dachte sie und brachte sie zu dem ihr genannten Tischler. Der schaute nur kurz. “Nicht der Mühe wert – aber vielleicht kann mein Nachbar noch etwas daraus machen.”

Sie schleppte die Kiste weiter – jeder verwies sie an jemand anderen. Das Tragen wurde immer schwerer, denn von ihr unbemerkt warfen des Öfteren fremde Menschen weiteres Unbrauchbares achtlos hinein, weil sie die alte Schatztruhe für einen “Mülleimer” hielten.

So kam sie schließlich zu einem Händler, der ihr ein paar Taler für das Holz anbot. “Für den Kamin könnte ich sie vielleicht brauchen und das Papier ist trocken, es taugt zum Anzünden”, hatte er gesagt.

Sie wollte schon aufgeben. Aber irgendwo – tief in ihr – war eine Stimme, die sie daran hinderte, die Schatztruhe dem Holzhändler zum Verbrennen zu überlassen.

Sie holte tief Luft, machte sich selber ein wenig Mut und brachte sie zurück in ihr kleines Zimmer. Zögernd begann sie, ganz mit sich alleine, das Papier auszuräumen. Knüll – Nachrichten – Knüll – längst vergangene Tage – Knüll – ach, stimmt, das war einmal, früher, sehr viel früher – Knüll, neben neueren Nachrichten auch ältere, die sie nicht einordnen konnte, offensichtlich hatten Fremde nicht nur auf ihrem beschwerlichen Weg, sondern auch schon zu anderen Zeiten ihre Schatztruhe als Mülleimer betrachtet – Knüll, noch mehr davon.

Sie stopfte den ersten Papierhaufen in ihren Ofen, sah den auflodernden Flammen einen Moment zu und setzte ihr Ausräumen fort.

Knüll, Nachrichten – Knüll, oh, was ist das??? Sie schaute genauer, staunte, eine winzig-kleine Figur kam zum Vorschein – Knüll, ein glänzender Stein! – Knüll, Papier – Knüll, ein zauberhafter Ring – Knüll, eine Elfe! – Knüll …
Sie wurde schneller, achtlos legte sie leeres Papier zur Seite – es kamen immer mehr wundervolle Dinge zum Vorschein. Sie holte ihren kleinen Tisch herbei und baute all die Fundstücke neben sich auf – je tiefer sie vordrang, desto schöner wurden ihre Entdeckungen.
Die Erinnerungen kamen zurück – wie sie damals vor so fast unglaublich langer Zeit freudig mit all dem Glitzernden, den Schönheiten und den Unvollkommenheiten gespielt hatte. Wie hatte sie all diese Wunder nur vergessen können? Was hatten die damals Großen wohl in all diesen Schätzen gesehen, dass sie ihr als kleines Mädchen eingeredet hatten, all dies sei nichts wert und ihr sogar alles weggenommen hatten?

„Nur gut, dass ich jetzt nicht wieder auf andere gehört habe, die sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, unter die Staub- und Papierschichten zu schauen!“ Sie hielt einen Moment inne in ihren Gedanken. Hatte sie sich nicht auch selber vom Staub und all den Schrammen verleiten lassen, die Kiste für wertlos, alt und hässlich zu halten? Sie seufzte, dann breitete sich ein erleichtertes Lächeln in ihrem Gesicht aus: „Wie gut, dass ich letztlich doch auf die kleine, leise Stimme in mir gehört habe!“ Zärtlich strich sie über das alte Holz.

All die vielfältigen Wunder, die sie liebevoll auf ihrem Tisch dekoriert hatten, tauchten ihr Zimmer in ganz neuen Glanz. Ihr Herz öffnete sich, Tränen flossen – aber diesmal waren es Tränen der Freude, der Erleichterung. Sie fühlte, sie hatte etwas wiedergefunden, das immer ein Teil von ihr war, auch wenn sie sich so lange nicht daran hatte erinnern können.
Sicher gab es noch mehr zu entdecken, aber es war spät geworden, der Mond schien bereits seit einiger Zeit hell und freundlich in ihr Fenster.
„Morgen“, dachte sie, „morgen schau ich weiter … Wer weiß, was ich noch alles in meiner Truhe entdecke!“
Dankbar, glücklich und eingehüllt vom Zauber ihrer Geburtskiste schlief sie ein.


©Antje Renz

#Frieden #Geschenke #dieWunderInUns

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